Flexibilität

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Ein E-Mail trifft ein. Ein sekundenschnelles elektronisches Poststück. Früher hat dies Tage dauern können, bis ein Brief beim Empfänger einlangte. Dementsprechend wusste der Versender auch, dass er warten musste, bis sein Brief beantwortet werden würde. Und der Empfänger wusste, er hat Zeit, die Anfrage zu beantworten. Heute ist die Situation eine komplett andere. Mit einem kurzen Enter-Tastendruck fliegt das Mail beim Empfänger ein, unabhängig davon, ob der Empfänger sie überhaupt sofort entgegennehmen und beantworten kann oder nicht. Oder ob es Tag oder Nacht ist. Oder ob gerade Arbeitszeit oder Freizeit ist. Eine unausgesprochene Aufforderung fliegt mit dem Mail mit, nämlich die, dass die Email sofort beantwortet werden muss. So schnell wie eine Nachricht eintrifft, so schnell möge es auch bitte wieder beantwortet zurückgeschickt werden.

Willkommen in der vierten Industrialisierung. Wir sind in einer grenzenlosen virtuellen Zeit gelandet – zumindest was die Flexibiltät, die Mobilität und die Schnelligkeit anbelangt. Die Entkopplung der Arbeit von den Faktoren Zeit und Ort bringt zwar einerseits neue Freiheiten, andererseits aber auch neue Anforderungen und Beanspruchungen. Einerseits sind wir immer und überall erreichbar und nicht mehr an Büroräume, fix montierte Arbeitsstandgeräte oder starre Arbeitszeiten gebunden. Andererseits müssen wir schnell auf technische Innovationen reagieren, diese erlernen und implementieren – und wir müssen lernen, mit der Auflösung der Trennlinie zwischen Arbeitsleben und Privatleben umzugehen. In was für ein Dilemma uns dies führt, beschreibt der Berliner Philosoph Byung-Chul Han dramatisch als eine „Haltung fast unbegrenzter Verausgabungs- und Leistungsbereitschaft“. Fand früher eine Fremdausbeutung statt, so würden wir uns heute selbst ausbeuten, meint er, und zwar freiwillig und ohne Fremdzwänge. 

Seine radikale Kritik an dem Zeitalter des Like, der digitalen Gesellschaft zusammen mit dem subtilen Sog des Smartphones machen eines deutlich: Wir müssen die Sorge und Verantwortung für unser eigenes Wohlergehen und unsere eigene Gesundheit selbst tragen. Flexibel, mobil und schnell heißt somit gleichzeitig auch Grenzlinien zu ziehen, mit Gelassenheit an Dinge – auch eintrudelnde Mails – heranzugehen und bewusst und überlegt zu handeln. 

Der Beitrag erschien im Magazin NOTABENE Nr. 3/2016.

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