Verwundbarkeit

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Wir Menschen sind soziale Wesen. Wir brauchen einander. Menschliche Begegnungen – vorzugsweise unbefangene und unbeschwerte – sind essentiell für uns. So essentiell, dass wir einen Schmerz fühlen, sobald sie uns fehlen. Die Gefühle des alleine seins und der Isolation sind vergleichbar mit einem körperlichen Schmerz. Aus sozialen Begegnungsräumen ausgeschlossen zu werden, tut nicht nur weh und distanziert uns von anderen, sondern lässt uns auch entwertet fühlen. Selbst wenn dies im Alltag bisher wenig erkennbar war, die Corona-Krise hat das Bewusstsein dafür zu Tage gebracht. 

Gerade in einer Krise bräuchten wir menschliche Begegnungen dringender denn je. Auf der Grundlage guter vertrauensvoller Beziehungen können positive zukunftsorientierte Erfahrungen gemacht werden. Solche Erfahrungen sind uns durch die Corona-Krise verwehrt geblieben. Denn diese Krise ist dadurch gekennzeichnet, dass der oder die Andere ein potenzieller Infektionsüberträger sein könnte. Der Psychotherapeut und Autor Wolfgang Martin Roth meint bei den Fresacher Toleranzgesprächen 2020 dazu: „Die Corona-Pandemie stellt die Verwundbarkeit des Menschen und unserer Gesellschaft auf brutale Weise bloß“. Die Pandemie hätte uns in unseren üblichen gesellschaftlichen Mechanismen der Verdrängung und Verleugnung von Angst und Tod zusätzlich verwundet, so Roth weiter. Von den drei traditionellen Bewältigungsmechanismen – Religion, Magie und Wissenschaft – würde derzeit allein die medizinische Wissenschaft mit ihrer Aussicht auf einen Impfstoff etwas Hoffnung verbreiten. Wobei „die Magie in diesen Tagen ersetzt wird durch Verschwörungstheorien, die da meinen, für die Pandemie nun Ursachen und Schuldige gefunden zu haben“, so der Psychotherapeut.

Wer verwundet wird, sucht einen Schuldigen für die erlittene Verletzung. Wir kennen dieses Phänomen von Liebestrennungen, wenn wir Müllhalden voller Kränkungen herumschleppen und dem oder der Anderen die Schuld für die Trennung geben. Aus solchen Erfahrungen haben wir gelernt, dass die Heilung einer Verwundung ihre Zeit braucht. Eines der schwersten Hindernisse für Heilung ist, nicht vergeben zu können. Heilung kann erst gelingen, wenn wir nicht mehr von Vergangenem auf das Heute schließen, wenn wir im Hier und Jetzt ankommen. 

Der Beitrag erschien im Magazin NOTOBENE Nr. 4/2020. 

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