Mensch sein

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Es ist ein Großexperiment, in dem wir uns gerade befinden. Die Fragestellung lautet: Wieviel Mensch braucht ein Mensch, um Mensch sein zu können? Anders gefragt: Wie weit können wir unsere sozialen Beziehungen reduzieren, ohne krank zu werden? Die Antwort des Psychiaters und Professors für Psychoneuroimmunologie Joachim Bauer darauf lautet seit Jahren gleich: „Menschen ohne Kontakt und zwischenmenschliche Nähe werden krank oder aggressiv. Denn Menschen sind auf sozialen Kontakt angewiesen.“ Unser „Selbst“ schlummere nicht wie ein Bodenschatz in uns, der darauf warte, gefunden und poliert zu werden, vielmehr sei es das Produkt von Resonanzen mit anderen Menschen – unserer geteilten Erfahrungen, Freuden und Ängste. Die analoge, physische Gemeinschaft mit anderen Menschen sei so wichtig, dass sie sich auf Dauer auch nicht durch digitale Kommunikationsmedien ersetzen lassen, so Bauer. Eine Ende September vorgestellte Studie von Forscher um Michael Musalek vom Institut für Sozialästhetik und psychische Gesundheit der Sigmund Freud Privatuniversität in Wien erbrachte den Beweis: Ein Viertel der Österreicher ist durch die Corona-Maßnahmen von einer “psychosozialen Pandemie” betroffen. Angst, Reizbarkeit und der Verlust an Lebensfreude sind deren Symptome. Tabak und Alkohol haben als “Krisenbewältiger” zugenommen. Fast jeder zweite Österreicher sei von der Coronakrise überfordert: “Dadurch liegen bei vielen Menschen die Nerven blank und sie sind reizbarer” so die Forscher.

Das Großexperiment geht in diesen Tagen in die nächste Runde. Es liegt ein großer Lerneffekt für unser aller Menschsein in dieser Corona-Krise als Schatz begraben. Er lautet, uns bewusst zu werden, dass wir Menschen einander brauchen und dass Menschlichkeit und Liebe zu leben – statt Aggression – jetzt die höchste Dringlichkeitsstufe erreicht haben. Dazu gehört auch, dass wir lernen, die Mimik in den Augen zu lesen, wenn Mund und Nase bedeckt sind. Das können wir, weil wir als perfekte Gesichtsleser, als Face Reader, geboren wurden. Höchste Zeit somit, dass wir unser Menschsein, sinnbildlich gesprochen, nicht mehr hinter einer Maske verstecken.

Der Beitrag erschien im Magazin NOTOBENE Nr. 5/2020.

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